von Carla Schwer
Mit 14 Schüler:innen der Maria Sybilla Merian- Gesamtschule Wattenscheid und der Lehrerin Charlotte Lyding startete am 11. April die zweite Durchführung der Bildungsreise im Rahmen des Projekts „An die Grenze gehen“. Nach einigen Umstiegen, Sitz- und Stehgelegenheiten auf Zugfluren und einem kurzen Umstiegssprint in Lübeck konnten wir uns mit zweistündiger Verspätung auf ein warmes Mittagessen in der Begegnungsstätte am Goldensee freuen.
Im Anschluss führten die beiden Teamenden Younis und Lucas die Schüler:innen an das Thema der Bildungsreise heran und sammelten erste Fragen, die die Schüler:innen zum Thema deutsch-deutscher Geschichte, Alltag in der DDR und Fluchterfahrungen mitgebracht hatten. Außerdem wurden Wünschen, Erwartungen und Befürchtungen der Teilnehmer:innen Raum gegeben.
Ein Teil der Gruppe erkundete in der Pause vor dem Abendessen die grüne Umgebung und spazierte am Goldensee entlang. Wer wollte, konnte anschließend den langen Reise- und Ankunftstag noch bei einem Filmabend ausklingen lassen und Sonnenallee schauen.
Am Mittwoch führte das Team gemeinsam mit den Teilnehmer:innen einen Workshop zum Thema „Identität(en)“ durch. Dieser Workshop wurde von anderen Studierenden im Rahmen des Projektes erarbeitet und nun das erste Mal mit einer Gruppen von Schüler:innen erprobt. Im ersten Schritt reflektieren die Schüler:innen Bestandteile ihrer eigenen Identität: Welche Rolle spielt z.B. Religiosität und Staatszugehörigkeit, aber auch die Rolle in der Familienstruktur, die eigene Freizeitgestaltung für unsere Identität? Wie veränderbar sind diese Identitätsmerkmale? In einem Austausch in Kleingruppen werden auch Unterschieden zwischen Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung der eigenen Person deutlich, wie der Ausspruch einer Teilnehmerin zeigt: „Ich nehme mich eher als gechillt wahr, aber M. war da anderer Meinung“.
Anschließend wird über den Zugang zu Musik der Bogen zum Überthema der Reise geschlagen: Motorengeräusche erfüllen den Raum, bevor die ersten Klänge von „Scheiss-Ossis“ von Marteria erklingen…
„Dieses Land immer noch zwei Teile
Lasst das mal ändern, ist doch scheisse!
Ihr besteht nicht nur aus Schönen und Reichen
Tief in euch drin seid ihr Schalke“
(Marteria. „Scheiss-Ossis“)
Gemeinsam mit den Toten Hosen, die mit „Scheiss-Wessis“ das musikalische Pendant schrieben, veröffentlichte der Rapper aus Rostock die Doppelsingle im März 2022. Der Song bot im Workshop Anlass, mit den Teilnehmenden über Vorurteile und Stereotype gegenüber ost- und westdeutscher Identität ins Gespräch zu kommen.
Anschließend wurde im „Identitätsspiel“ ein Blick auf die Vielschichtigkeit der damalige DDR-Gesellschaft geworfen. Den Schüler:innen wurden über Rollenkarten ostdeutsche Identitäten zugeteilt: Vom Arbeiter und SED-Mitglied Boris, der als „Held der Arbeit“ gefeiert wird über den Schwarzen Studenten Moussa bis hin zu Valentina, die sich in Leipzig in der Umweltschutzbewegung engagiert. Anhand von Fragen sollten die Schüler:innen nun die Handlungsmöglichkeiten ihrer Rollen einschätzen und Privilegien und Unfreiheiten erkennen.
Am Donnerstag ging es dann nach Schwerin! Die erste Station war die Gedenkstätte Demmlerplatz (LINK: https://www.dokumentationszentrum-schwerin.de/). Durch das ehemalige Gefängnis wurden wir von dem pädagogischen Mitarbeiter Christian Glüer geführt, der auf den drei Etagen, die jeweils einem historischen Zeitabschnitt (1933 – 1945; 1945 – 1953, 1953 – 1989) gewidmet sind, anschaulich den historischen Ort und seine Geschichte(n) beschrieb.
Ein Höhepunkt des Tages war sicherlich die intensive Begegnung mit Ralf Peter Sooß, der in der Gedenkstätte als Zeitzeuge mit den Schüler:innen ins Gespräch kam. Er selbst hatte in einer der Zellen vom Demmlerplatz eingesessen, war schon als Kind skeptisch und kritisch gegenüber Autoritäten und bekam so schnell die harten Grenzen der DDR-Gesellschaft gegenüber den „Unangepassten“ zu spüren. Für ihn hieß das: Kinderheim, Jugendarrest, Fluchtversuch, Haft. Eindrücklich erzählte er von äußeren Gewalterfahrungen und innerem Widerstand und wie der Gedanke an einen Broiler ihn in schwierigen Situationen zum Durchhalten angehalten hat.
Anschließend verließen wir wieder das ehemalige Gefängnisgebäude und schauten uns bei strahlendem Sonnenschein die beschauliche Landeshauptstadt an.
Abends wurde in der Begegnungsstätte noch einmal ausführlich das Zeitzeug:innengespräch reflektiert und nachbereitet, bevor dann der letzte Abend am Lagerfeuer mit Stockbrot und Marshmallows unter sternenklarem Himmel ausklang.
Der Freitag führte uns zunächst nach Schlagsdorf ins Museum Grenzhus (LINK: https://www.grenzhus.de/). Dort wurden wir von Tobias Olschewski durch die gut ausgestattete und modern aufbereitete Ausstellung geführt, die sowohl allgemeine politische Entwicklungen nachzeichnet, wie auch Alltagsgeschichten aus dem Grenzgebiet, auf west- wie auch auf ostdeutscher Seite, nacherzählt. Im Anschluss konnten sich die Schüler:innen auf dem Außengelände, wo die Grenzanlagen nachgebaut wurde, die gewollte Unüberwindbarkeit dieser vor Augen führen.
Nachdem wir uns im Café Grenzstein noch mit einer leckeren Kartoffelsuppe gestärkt hatten, traten wir dann wieder, von Ratzeburg aus, die Rückreise ins Ruhrgebiet an. Gedankt sei an dieser Stelle Charlotte Lyding und der Maria Sybilla Merian- Gesamtschule Wattenscheid und den 14 Schüler:innen, außerdem der Begegnungsstätte Alte Schule e.V., den Ansprechpersonen der besuchten Gedenkstätten und allen, die uns beim Transport im ländlichen Raum unterstützt haben.